Tabu und Stigma

Sexualisierte Gewalt wird oft als Tabuthema gesehen.

Für Betroffene von sexualisierter Gewalt ist es oft enorm schwierig, ihre Erfahrungen anderen gegenüber offenzulegen. Das Gefühl, nicht darüber sprechen zu können, stellt mitunter eine starke zusätzliche Belastung dar. Für männliche* Betroffene scheint eine besonders große Hemmschwelle zu bestehen, von ihren Gewalterfahrungen zu berichten.

Das lässt sich zum Teil durch eine bestimmte Vorstellung davon erklären, was als männlich gilt, und was nicht. In den meisten Gesellschaften herrscht ein Bild vor, dass ein Mann* stark, dominant und wehrhaft sein sollte, dass er seine Familie versorgen kann, und dass er nicht auf die Hilfe anderer angewiesen ist. Ein Opfer zu werden, noch dazu ein Opfer von sexualisierter Gewalt – das passt nicht zu dieser Vorstellung von Männlichkeit. Und auch das Hilfesuchen und das Offenlegen der eigenen Verwundbarkeit wird oft als unmännlich wahrgenommen.

Wenn ein Mann* davon berichtet, dass er sexualisierte Gewalt erfahren hat, bricht er also auf mehrere Weisen mit dem Männlichkeitsideal. Und weil dadurch sehr gefestigte Vorstellungen von Rollenbildern ins Wanken geraten könnten, reagiert sein Umfeld dann womöglich nicht unterstützend oder mitfühlend, sondern ablehnend. Das kann so weit gehen, dass das Umfeld den Betroffenen selbst für die Gewalt beschuldigt, ihm seine Männlichkeit abspricht, ihn verstößt oder ihm sogar weitere Gewalt antut.

Gründe, warum Männer* nicht über ihre Gewalterfahrungen sprechen:

  • nicht zu wissen, an wen man sich wenden soll
  • Starke Schamgefühle
  • das Gefühl, es alleine schaffen zu müssen
  • Angst, durch das Sprechen alles nur schlimmer zu machen
  • Angst, dass man ihrer Geschichte keinen Glauben schenkt oder dass man sie auslacht
  • Angst, nicht mehr als „echter Mann“ gesehen zu werden oder das Gefühl, kein „echter Mann“ mehr zu sein
  • Angst, für andere jetzt als homosexuell zu gelten
  • Angst, noch mehr Gewalt zu erfahren

Betroffene haben also oft gut nachvollziehbare Gründe, ihre Gewalterfahrungen vor anderen zu verbergen. Auf der anderen Seite bedeutet das häufig, dass sie weder medizinische Versorgung, noch psychologische Unterstützung erhalten. Auch auf einer gesellschaftlichen Ebene bleibt das Leid oftmals unerkannt.

Mythen und Wahrheit über sexualisierte Gewalt gegen Männer

Was ist ein Mythos?

Der Begriff „Mythos“ beschreibt eine in der Gesellschaft vorherrschende Erzählung bzw. Vorstellung über einen Sachverhalt. Mythen werden fälschlicherweise und oft unhinterfragt für die Realität gehalten. Allerdings sind Teile der Erzählung bzw. Vorstellung meist verschwommen und irrational, entsprechen also nicht den Tatsachen. Erfundenes und Reales werden bei einem Mythos oft vermischt. Ein Mythos kann – auch wenn seine Aussagen falsch sind – das Denken, Fühlen und Handeln von Personen / einem Großteil der Gesellschaft erheblich (auch negativ) beeinflussen.

Ähnliche Begriffe sind: Legende, Annahme, Gerücht, „fake news“.

Mythen und Wahrheit

Mythos: Jungen* und Männer* können nicht sexuell missbraucht oder vergewaltigt werden.

Wahrheit: Auch Jungen* und Männer* erfahren sexuelle Gewalt – überall auf der Welt.


Mythos: Nur schwache Jungen* und Männer* erleben sexualisierte Gewalt. Ein starker / „richtiger“ Mann würde sich wehren.

Wahrheit: Männlichkeit bedeutet nicht Aggression, Unverletzlichkeit und emotionales Schweigen. Unabhängig von der körperlichen und mentalen Stärke können in einer Zwangslage alle Jungen* und Männer* sexueller Gewalt ausgeliefert sein.


Mythos: Wer ein „richtiger Mann“ sein will, muss alleine mit der Gewalt klarkommen, die ihm passiert ist.

Wahrheit: Auch Jungen* und Männer* leiden unter seelischen und körperlichen Folgen von sexualisierter Gewalt. Auch sie dürfen sich dafür Hilfe und Unterstützung suchen. Sie bleiben trotzdem Jungen*/Männer*.


Mythos: Ausschließlich homosexuelle Jungen* und Männer* erleben sexualisierte Gewalt.

Wahrheit: Heterosexuelle, bisexuelle sowie homosexuelle Jungen* und Männer* können von sexueller Gewalt betroffen sein. Leider erleben homosexuelle und bisexuelle Jungen* und Männer* jedoch häufiger sexualisierte Gewalt, als heterosexuelle Jungen* und Männer*.


Mythos: Nur homosexuelle Männer werden sexuell gewalttätig gegen andere Jungen* oder Männer*.

Wahrheit: Sexualisierte Gewalt ist unabhängig von der sexuellen Orientierung der Täter. Sie hat häufig nichts mit Lust, Begehren oder sexueller Anziehung zu tun. Durch sexualisierte Gewalt werden Macht und Kontrolle über eine andere Person ausgeübt. Häufig, insbesondere im Kriegskontext, ist das ihre zentrale Funktion.


Mythos: Erlebte sexualisierte Gewalt macht Jungen* und Männer* homosexuell.

Wahrheit: Von sexualisierter Gewalt betroffene Jungen* und Männer* fragen sich hinterher oft oder sind sich unsicher, ob sie vielleicht homosexuell sind. Wissenschaftler*innen sehen keinen Zusammenhang zwischen erlebter sexualisierter Gewalt und der sexuellen Orientierung.


Mythos: Eine Erektion oder Ejakulation während eines sexuellen Missbrauchs / einer Vergewaltigung bedeutet, dass der Betroffene es selber wollte und dabei Lust empfunden hat.

Wahrheit: Erektion und Ejakulation sind spontane physiologische Reaktionen, die aus bloßem Körperkontakt oder sogar aus extremem Stress resultieren können. Diese Reaktionen und Empfindungen bedeuten nicht, dass der betroffene Junge* oder Mann* den Missbrauch / die Vergewaltigung wollte oder genossen hat. Sie sagen auch nichts über die sexuelle Orientierung aus.


Mythos: Jungen* und Männer* können nicht von Frauen* sexuell missbraucht / vergewaltigt werden.

Wahrheit: Auch Frauen können Täterinnen sein und Jungen* und Männer* zu unerwünschten sexuellen Handlungen zwingen. Täterinnen im Kriegskontext sind z.B. Soldatinnen, Polizistinnen, Gefängniswärterinnen. Aber auch im zivilen oder privaten Umfeld werden Frauen zu Täterinnen.


Mythos: Von sexualisierter Gewalt betroffene Jungen* und Männer* werden später selber zu Vergewaltigern.

Wahrheit: Die große Mehrheit der Männer*, die in der Kindheit oder als Erwachsene selber sexuualisierte Gewalt erlebt haben, werden NICHT zu Vergewaltigern. Auch Jungen* und Männer*, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, sind und bleiben liebevolle Ehemänner, Väter, Söhne, Brüder, Freunde und wichtige Mitglieder der Gemeinschaft.


Die Mythen über sexualisierte (Kriegs-)Gewalt gegen Männer* und Jungen* und ihre Aufklärungen wurden unter freundlicher Zustimmung des Psychosozialen Zentrums Refugio Thüringen aus folgender Quelle sprachlich und/oder sinngemäß übernommen: https://www.refugio-thueringen.de/informationen-f%C3%BCr-betroffene