Informationen für Behandler*innen und Berater*innen
“The path to recovery winds straight through masculinity’s forbidden territory: the conscious experience of those intense, overwhelming emotional states of fear, vulnerability, and helplessness” (Lisak, 1995, p. 262)
Einleitung
Wenn das Thema sexualisierte Gewalt bei männlichen* Klienten oder Patienten auftaucht, bringt dies auch Herausforderungen für die psychosozial und psychotherapeutisch Tätigen mit sich und kann zuweilen Unsicherheit auslösen. Dies womöglich umso mehr, wenn es sich nur um einen Verdacht handelt, die betroffene Person jedoch nicht selbst darauf zu sprechen kommt oder anderweitig signalisiert, dass sie darüber sprechen möchte.
Inwiefern das Thema von Ihrer Seite als Behandler*in oder Berater*in exploriert werden sollte, hängt in großem Maße vom Beratungs- bzw. Behandlungsanliegen des Patienten/Klienten, von seiner Bleibeperspektive, sowie seiner aktuellen Lebenssituation ab. Aufgrund der Unterschiedlichkeit der individuellen Voraussetzungen können wir nur wenige konkrete Hinweise geben, die den diagnostischen Prozess anleiten können. An dieser Stelle fassen wir einige Informationen zusammen, die wir als hilfreich erachten. (Der sprachlichen Vereinfachung halber sprechen wir im Folgenden von Betroffenen, auch wenn die Betroffenheit zunächst nur vermutet wird.)
Das Berichten über Erfahrungen von sexualisierter Gewalt ist mit vielen Barrieren verbunden und berührt Aspekte von großer Intimität. Damit das Sprechen darüber überhaupt möglich ist, bedarf es einiger grundlegender Voraussetzungen.
- Der Betroffene muss sich sicher fühlen und seinem Gegenüber vertrauen können. Die Verpflichtung der Berater*in/Behandler*in zur Verschwiegenheit ist von großer Bedeutung.
- Der Betroffene braucht die Gewissheit, dass er für das Geschehene weder verantwortlich gemacht, noch ausgelacht oder beschämt wird.
- Der Betroffene muss sicher sein können, dass sein Gegenüber empathisch mit ihm ist und ihm Glauben schenkt.
- Der Betroffene muss wissen, dass sein Gegenüber ihn nicht auf seine Betroffenheit reduzieren, sondern ihn als ganze Person anerkennen wird.
Auch Männer* sind von sexualisierter Gewalt betroffen. Die Folgen manifestieren sich auf vielfältige Weise. Die Betroffenen suchen häufig aufgrund der Folgebelastungen Unterstützung in Beratungs- bzw. Behandlungskontexten, wobei die sexualisierte Gewalt nicht notwendigerweise als (Mit-)Auslöser erkannt bzw. benannt wird.
- Auch solche betroffenen Männer*, die Beratungen oder Behandlungen aufsuchen, legen ihre Erfahrungen teilweise nicht oder erst sehr spät offen.
- Über potenziell traumatische Ereignisse zu berichten, löst mitunter eine Welle belastender Gefühle und Erinnerungen aus, bis hin zu Flashbacks und dissoziativen Zuständen. Gleichzeitig erlaubt die Offenlegung eine adäquate Versorgung und kann dabei helfen, dass die Betroffenen eine Bleibeberechtigung erhalten.
- In Ausnahmefällen berichten Betroffene spontan bzw. initiativ von der erlebten sexualisierten Gewalt, in der Regel bedarf es jedoch einer gründlichen Anamnese und wiederholter Angebote vonseiten der Berater*in/Behandler*in.
- Das Geschlecht der Berater*in/Behandler*in kann für die Offenlegung relevant sein. Manchen Männern ist es sehr unangenehm, vor Frauen über intime bzw. auf die Sexualität bezogene Themen zu sprechen. Für andere ist dies vor Männern aus der eigenen (religiösen bzw. kulturellen) Community ein Tabu. Die Präferenz ergibt sich aus einem Zusammenspiel aus kulturellen und biografischen Faktoren. Als Daumenregel gilt, dass es den meisten Männern zunächst leichter zu fallen scheint, mit einer Frau zu sprechen.
- Das Alter der Berater*in/Behandler*in kann ebenfalls eine Rolle spielen. Es gibt Hinweise darauf, dass ältere Gesprächspartner*innen möglicherweise bevorzugt werden.
- Wenn möglich, sollte die Präferenz der Betroffenen bei der Passung mit der Berater*in/Behandler*in mit einbezogen werden.
- Männliche Stereotype und Rollenvorstellungen, sowie auch die konkreten Rollerwartungen an den Betroffenen in seinem Familien- bzw. Gemeinschaftsgefüge, stehen oft im Widerspruch zu seinen Erfahrungen von Vulnerabilität und Hilflosigkeit im Kontext der Gewalterfahrungen. Das Selbstverständnis kann daher durch die Gewalterfahrung erschüttert sein.
- Auch die familiären Veränderungen, die durch Migrations- und Akkulturationsprozesse entstehen, können bisherige Selbstkonzepte infrage stellen.
- Die Berater*in/Behandler*in sollte sensibel für diese Herausforderungen sein, denen sich ihre männlichen* Klienten/Patienten gegenübersehen und diese ggf. offen zur Sprache bringen, Verständnis signalisieren und dadurch eine stückweite Entlastung schaffen.
Im transkulturellen Beratungs- und Behandlungskontext wird häufig mit Sprachmittler*innen gearbeitet. Diese Arbeit birgt eine Reihe von Herausforderungen, von denen wir nur einige mit Bezug auf die Zielgruppe aufgreifen:
- Die sprachmittelnde Person sollte nicht aus dem familiären Umfeld stammen, da Betroffene hier Hemmungen haben können, offen zu berichten, oder Familienmitglieder aus Scham nicht alles übersetzen möchten.
- Gehören der Betroffene und die sprachmittelnde Person derselben Community an, kann dies beim Betroffenen Sorge um die Vertraulichkeit der Informationen auslösen.
- Das Geschlecht der sprachmittelnden Person ist relevant. Wenn möglich, sollte die Präferenz des Betroffenen bei der Auswahl mit einbezogen werden.
- Eine wünschenswerte Konstellation ist demzufolge, wenn die sprachmittelnde Person nicht unmittelbar der Community des Betroffenen angehört, hierzu jedoch einen Bezug hat und demnach auch kultursensibel übersetzen kann.
- Die sprachmittelnde Person sollte selbst bereit sein, die Sexualität betreffende Inhalte zu verbalisieren. Ggf. ist es sinnvoll, gemeinsam mit der sprachmittelnden Person Vorschläge für ein sensibles Vokabular zu erarbeiten, die dem Betroffenen zur Verbalisierung angeboten werden können.
- Ist ein aktives Ansprechen sexualisierter Gewalterfahrungen vonseiten der Berater*in/Behandler*in geplant, ist es wünschenswert, die sprachmittelnde Person vorab darüber in Kenntnis zu setzen.
- Die sprachmittelnde Person ist nicht nur „Sprachrohr“, sondern gestaltet die Interaktion maßgeblich mit und ist außerdem unmittelbar mit den Erzählungen des Betroffenen konfrontiert. Regelmäßige Supervisionen können daher sowohl die Kommunikation in der Triade verbessern, als auch mögliche Belastungen bei den Sprachmittler*innen auffangen.
Das Erinnern an und Berichten über biografische Ereignisse stellt zugleich eine Konfrontation mit dem Erlebten dar, die starke Emotionen auslösen kann. Ob die Exploration (vermuteter) sexualisierter Gewalterfahrungen zu einem gegebenen Zeitpunkt hilfreich und sinnvoll für den Betroffenen ist, hängt von einer Reihe individueller Bedingungen ab:
- Das Berichten über sexualisierte Gewalterfahrungen kann im Asylprozess bedeutsam für dessen Ausgang sein. Im Kontext von Asylprozessbegleitungen kann es daher wichtig sein, die Erfahrungen zu explorieren und mit dem Betroffenen zu üben, das Erlebte – zumindest skizzenhaft – auszusprechen. Dabei sollte der Betroffene mit Stabilisierungsangeboten unterstützt werden.
- Hat der Betroffene eine Bleibeperspektive und kann im Beratungs-/Behandlungskontext eine stabile Beziehung aufgebaut werden, dann ist es sinnvoll, im Rahmen einer gründlichen und ggf. auch wiederholten Anamnese Angebote zur Offenlegung zu machen. Dabei ist eine schrittweise, sensible Vorgehensweise angemessen, die sich an der Mitteilungsbereitschaft sowie am Vokabular des Betroffenen orientiert.
- Besteht keine Aussicht auf eine Bleibeberechtigung in Deutschland und könnte der Kontakt jederzeit unvorhergesehen unterbrochen werden, ist die Initiative zur Exploration der Thematik vonseiten der Behandler*in/Berater*in nicht angeraten.
- Möchte der Betroffene selbst von den Erfahrungen berichten, sollte die Behandler*in/Berater*in dazu bereit sein, zuzuhören, empathisch zu reagieren und angemessen zu unterstützen.
- Zuweilen kann es vonseiten der Betroffenen zu „überflutenden“ Offenlegungen kommen, in denen sehr viel berichtet wird. Dabei werden Emotionen ggf. nicht kohärent zur Erzählung erlebt, treten jedoch mit Verzögerung auf und können dann belastend oder überfordernd wirken. Hier kann eine begrenzende Ko-Regulation von außen eine zuträgliche Offenlegungsgeschwindigkeit unterstützen.
- Signalisiert der Betroffene deutlich, dass er diesen Themenbereich nicht vertiefen möchte, sollte dies respektiert werden.
Die Anzeichen für Erfahrungen von sexualisierter Gewalt sind vielfältig, dabei in der Regel jedoch nicht eindeutig. Aus der direkten Versorgungspraxis sind unter anderem folgende Hinweise bekannt, die den Verdacht auf sexualisierte Gewalterfahrungen nahelegen:
Verbale Hinweise
- Berichte von bzw. Hinweise auf physiologische Beeinträchtigungen im Genital- bzw. Rektalbereich (z.B. urologische Vorbehandlungen, Inkontinenz, Schmerzen beim Urinieren, Schmerzen beim Sitzen)
- Andeutungen bzw. Berichte von Schwierigkeiten im Sexualleben
- Umschreibende bzw. indirekte Andeutungen von Gewalterlebnissen
- Aussagen mit Hinweisen auf einen empfundenen Ehrverlust oder große Beschämung
- Wunsch nach einem Untersucher/Berater/Kliniker eines bestimmten Geschlechts bzw. Aussagen, dass aufgrund des Geschlechts des Gegenübers bestimmte Themen nicht besprochen werden können
- Wunsch nach einer sprach- bzw. kulturmittelnden Person mit bestimmten Eigenschaften (bezüglich Geschlecht, Herkunftsland, Lebensalter)
Allgemeine Hinweise der Symptomatik
- Posttraumatische Belastungssymptome
- Depressivität
- Suizidalität
- Angstsymptomatik
- Somatoforme Beschwerden
- Ausgeprägte Schmerzsymptomatik ohne erkennbare physiologische Ursache
Allgemeine verhaltensbezogene Hinweise
- Gekrümmte Sitzposition
- Vermeidung von Augen- und Körperkontakt
- Erkennbare Isolation im Alltag
- Auffälligkeiten im Schlafverhalten
- Aggressives Verhalten, Impulsivität
- Auffälligkeiten in der Körperhygiene
Die belgischen Forscherinnen Ines Keygnaert und Leni Linthout haben ein „Triage Tool“ entwickelt, mittels dessen sexualisierte Gewalt bei Personen mit Flucht- bzw. Migrationshintergrund schneller erkannt werden soll. Die zwei „Triage identification sheets“ (Seiten 27-37) richten sich sowohl an Personen, die im allgemeinen Aufnahmekontext mit Geflüchteten arbeiten (z.B. in Wohneinrichtungen, Bildungseinrichtungen, Ämtern), als auch Personen, die in der gesundheitlichen Geflüchtetenversorgung arbeiten. Das Instrument ist aktuell nur in englischer Sprache verfügbar.
- Link zum Triage Tool: https://biblio.ugent.be/publication/8700886/file/8700891.pdf
Angebote zur Offenlegung nähern sich dem Thema idealerweise vom Allgemeinen zum Konkreten.
- Werden bei einem Patienten/Klienten sexualisierte Gewalterfahrungen vermutet, beispielsweise aufgrund einer berichteten Gefangenschaft, wäre es möglich, zunächst vom allgemeinen Kenntnisstand auszugehen und dann auf den Patienten/Klienten zu konkretisieren. Beispielsweise:
- „Wir wissen aus Berichten aus diesen Gefängnissen, dass dort viel Gewalt ausgeübt wird. […] Manchmal bezieht sich diese Gewalt auch auf das Geschlecht von einer Person. [Ggf. Beispiele anführen, was damit gemeint sein kann] Haben Sie so etwas dort auch mitbekommen, gesehen? […] Haben Sie so etwas womöglich selbst erlebt? […]
- „Wir wissen aus Berichten aus diesen Gefängnissen, dass dort viel Gewalt ausgeübt wird. […] Manchmal bezieht sich diese Gewalt auch auf das Geschlecht von einer Person. [Ggf. Beispiele anführen, was damit gemeint sein kann] Haben Sie so etwas dort auch mitbekommen, gesehen? […] Haben Sie so etwas womöglich selbst erlebt? […]
- Berichtet der Betroffene körperliche Gewalterfahrungen, könnte nachgefragt werden:
- „Sie haben mir von Gewalterfahrungen berichtet, die sich auf Ihren Körper beziehen. Haben Sie auch etwas erlebt, das sich auf Ihr Geschlecht bezieht?“
- „Sie haben mir von Gewalterfahrungen berichtet, die sich auf Ihren Körper beziehen. Haben Sie auch etwas erlebt, das sich auf Ihr Geschlecht bezieht?“
- Es kann sinnvoll sein, bereits vorab das Bewusstsein über die potentielle Normenüberschreitung anzukündigen, und das Thema zu normalisieren bzw. zu kontextualisieren:
- „Ich werde Ihnen jetzt eine Frage stellen, die Sie womöglich sehr unangemessen finden. Ich möchte Ihnen aber versichern, dass dieses Thema hier ein ganz normales Thema ist, über das wir sprechen können, und dass es für mich als Ihr*e [Therapeut*in/Berater*in] sehr wichtig ist, Ihnen diese Frage zu stellen. […]“
Hier stellen wir Ihnen Material zur Verfügung, mittels dessen die Kultursensibilität in anamnestischen und diagnostischen Prozessen gefördert werden kann.
- Infos auf einen Blick: In unseren „Pockets“ haben wir die wichtigsten Informationen zur Diagnostik und Anamnese in transkulturellen Settings zusammengetragen. In jedem Pocket finden Sie am Ende Hinweise auf weiterführende Literatur.
- Auf Kultursensibilität geprüfte Screeningverfahren: Auf der Seite Q-Cultural [https://www.q-cultural.de] sind viele Standard-Screeningverfahren in psychometrisch überprüften Übersetzungen verfügbar.
Literaturangaben/Weiterführende Literatur
Keygnaert, I., & Linthout, L. (2021). Triage Tool for identification, care and referral of victims of sexual violence at European asylum reception and accommodation initiatives. Ghent, Belgium: Ghent University - International Centre for Reproductive Health (ICRH).
Lisak, D. (1995). Integrating a critique of gender in the treatment of male survivors of childhood abuse. Psychotherapy, 32, 258 –269.
Nesterko, Y., & Glaesmer, H. (2020). Sexualisierte Gewalt gegen Männer im Kontext von Krieg und Vertreibung. Trauma & Gewalt, 14(3), 182-196.
Russell, W., Hilton, A., & Peel, M. (2010). Care and Support of Male Survivors of Conflict-Related Sexual Violence: Background Paper.
Schönenberg, K. H., Glaesmer, H. & Nesterko, Y. (2022). Dimensionale Erfassung des individuellen Erlebens kriegs- und vertreibungsbezogener sexualisierter Gewalt und ihrer Folgen bei männlichen Betroffenen: Eine narrative Literaturübersicht [Assessment of the Individual Experience of Sexual Violence in War and Forced Displacement and its Consequences Among Male Victims: A Narrative Literature Review]. Psychotherapie, Psychosomatik, medizinische Psychologie. Vorab-Onlinepublikation. doi.org/10.1055/a-1806-3313